Photos mit freundlicher Genehmigung aus der Sammlung des Taipei Fine Arts Museum
Vor weniger als zwei Jahrzehnten wurde Dialektdichtung bestenfalls als eine Randform der Literatur erachtet. Heute jedoch gewinnen Verse, die in Dialekten wie dem Taiwanesischen abgefaßt sind, breite Akzeptanz.
Im Jahr 1976 war Hsiang Yang(向陽)noch ein recht unbekannter Poet aus Nantou in Zentraltaiwan. Doch gerade in jenem Jahr fand sich der 22jährige Student an der Chinesischen Kultur-Universität in Taipei plötzlich im Rampenlicht und im Mittelpunkt einer Kontroverse wieder. Er hatte eine Reihe von Gedichten über seine Eltern und Großeltern veröffentlicht, welche ihm später den prestigereichen "Wu-Cho-liu-Preis für Dichtung" eintrugen. Die Gedichte sind lyrische Rückblicke auf seine Kindheit auf dem Lande und vom Ethos der Hsiang-t'u Wen-hsüeh- bzw. "Heimat"-Literatur durchdrungen:
阿爹的飯包
每一日早起時,天猶未光
阿爹就帶著飯包
騎著舊鐵馬,離開厝
出去溪埔替人搬砂石
每一暝阮攏在想
阿爹的飯包到底什麼款
早頓阮和阿兄食包仔配豆乳
阿爹的飯包起碼也有一粒蛋
若無安怎替人搬砂石
有一日早起時,天猶黑黑
阮偷偷走入去竈腳內,掀開
阿爹的飯包:沒半粒蛋
三條菜脯,蕃薯籤參飯
Vatis Essensbehälter
Jeden Morgen stand Vati noch vor der Sonne auf
Er nahm seinen Essensbehälter
Fuhr sein altes Rad zum Flußbett
Um dort Schotter zu schleppen
Jeden Abend fragte ich mich
Was wohl in Vatis Essensbehälter sein mochte
Jeden Morgen frühstückten mein älterer Bruder und ich gefüllte Dampfnudeln und Sojamilch
Vati hatte sicher ein Ei in seinem Essensbehälter
Wenn nicht, wie könnte er dann Schotter schleppen
Eines Morgens, als es noch dunkel war
Stand ich auf und schlich auf Zehenspitzen in die Küche
Da war gar kein Ei in Vatis Essensbehälter
Nur Reis mit Süßkatoffeln und etwas eingelegter Rettich
Als 22jähriger Student brachte Hsiang Yang 1976 einen Gedichtband heraus, in dem er von seiner Kindheit auf dem Lande erzählt, und für den er einen Literaturpreis erhielt. Was die öffentliche Aufmerksamkeit erregte, war, daß er in Taiwanesisch dichtete.
Hsiang Yang's Gedicht "Vatis Essensbehälter" erzählt aus der Sichtweise eines Erwachsenen, der sich an seine Kindheit erinnert. In drei Strophen malt der Autor ein lebhaftes Porträt von den Beziehhungen in einer traditionellen Familie und von den Härten, mit denen sich Arbeiter auf dem Land konfrontiert sahen, was zu den zentralen Themen der "Heimat"-Literatur zählt. Also eigentlich kaum Kontrovers. Aber was Leser aufmerksam werden ließ, war nicht die Thematik der Gedichte: Bedeutender war, daß die Verse in Hsiang Yang's Muttersprache verfaßt waren, dem Südfukien-Dialekt, der manchmal als "Taiwanesisch" bezeichnet wird.
Hsiang Yang war nicht der einzige, der sich in seinem Heimat-Dialekt zu schreiben bemühte. Etwa um dieselbe Zeit zog Lin Tsung-yuan(林宗源)in der südlich gelegenen Stadt Tainan mit seinen in lokaler Mundart gehaltenen Gedichten ebenso große Aufmerksamkeit auf sich. Ihre voneinander unabhängigen Anstrengungen hin zu einer damals herabsetzend als "Dialekt-Dichtung" bezeichneten Dichtkunst waren die ersten nach fast einem halben Jahrhundert. Doch waren beide Poeten der festen Überzeugung, daß die Zeit reif war, in der Sprache zu schreiben, die sie als Kinder gelernt hatten. Allerdings sahen sie sich immensen geschichtlichen, politischen und linguistischen Barrieren gegenüber.
Obwohl der südfukiensische Dialekt von etwa 70 Prozent der Bevölkerung Taiwans gesprochen wird, wurde nie eine Schriftsprache standardisiert. Das Fehlen sowohl einer schriftlichen Tradition als auch einer formalen Erziehung in Südfukiensisch haben eine Verwendung dieses Dialekts als literarisches Ausdrucksmittel verhindert. Und die meisten Ansätze, in dieser Mundart zu schreiben, wurden aus politischen Überlegungen unterbunden. Das Taiwanesische war aus offiziellen Kreisen, aus den Schulen, Radio und Fernsehen der Republik China verbannt, weil man der Ansicht war, daß eine einzige Amtssprache die Verwaltung Taiwans vereinfachen und für größere gesellschaftliche Geschlossenheit sorgen würde. Noch Mitte der siebziger Jahre war die Verwendung des Taiwanesischen ein heikles Thema. Und in der Tat wurde beiden, Hsiang Yang und Lin Tsung-yuan, die Befürwortung von Separatismus vorgeworfen, weil sie in ihrer angestammten Mundart zu schreiben beschlossen hatten. Doch trotz aller Schwierigkeiten setzten sie sich durch. Heute ist mundartliche Dichtung, einst als eine Bewegung am Rande der Literatur erachtet, einer der bedeutenden literarischen Trends der achtziger und neunziger Jahre.
Mundart-Poesie nimmt nun in der Literatur Taiwans einen größeren Platz ein. Ursprünglich forderten Befürworter der Bewegung den Gebrauch des südfukiensischen Dialekts als literarisches Medium anstelle von Mandarin-Chinesisch, der Amtssprache der Republik China. Doch in den letzten Jahren erweiterte sich die Bewegung und schließt nun die in Hakka und in den vielen Stammessprachen geschriebene Literatur mit ein. Südfukiensisch hat jedoch die größte Anhängerschaft. Wegen ihrer Konzentration auf Taiwan wird in Taiwanesisch verfaßte Literatur oft mit der "Heimat"-Literatur verglichen. Der hauptsächliche Unterschied zwischen beiden ist, wie Lin Tsung-yuan erklärt, daß der Begriff "Heimat"-Literatur auch in Mandarin-Chinesisch abgefaßte Werke einschließt.
Die historischen Wurzeln der Bewegung gehen eigentlich auf die Zeit der japanischen Besetzung (1895-1945) zurück. Im Jahr 1919 führte die "4.-Mai-Bewegung" zu nachhaltigen Veränderungen der politischen und kulturellen Grundlagen Chinas. Wenngleich unter der Herrschaft Japans stehend, merkte man doch auch auf Taiwan die resultierenden Schockwellen. Die wichtigste Entwicklung im kulturellen Bereich war die Ersetzung des klassischen Chinesisch durch die moderne Landessprache als die offizielle und in den Schulen gelehrte. Der Peking-Dialekt bzw. das Mandarin wurde zum Standard für die moderne Landessprache bestimmt. Da Mandarin in Taiwan nicht sehr verbreitet gewesen ist, waren viele Schriftsteller abgeneigt, es zu übernehmen.
In den frühen dreißiger Jahren schlugen viele Autoren und Kritiker, wie Huang Shih-hui(黃石輝)und Kuo Chiu-sheng(郭秋生), vor, das Taiwanesische als literarisches Ausdrucksmittel zu verwenden. Andere, wie der Dichter Chang Wo-chun(張我軍), klagten, daß die regionale Mundart zu derb sei und es ihr an der kultivierten Eleganz des Peking-Dialektes fehle. Die Debatte währte bis 1937, dem Jahr, als die Japaner ihre militärische Expansion in Asien starteten. Zu deren Unterstützung begannen die kolonialen Autoritäten die "Bewegung für japanische Sprache", welche Druck und Veröffentlichung in chinesischer Sprache verbot. Die Streitfrage, welcher Dialekt nun zu verwenden sei, war erst einmal auf Eis gelegt.
Nach dem Krieg waren die einheimischen Schriftsteller bereit, sie wieder aufzunehmen, doch war die Diskussion kurzlebig. Im Jahr 1945 etablierte die Zentralregierung zur Förderung des Mandarin in der gesamten Nation unter dem Erziehungsministerium die Nationale Sprachkommission. Deren erstes Büro auf Taiwan wurde 1946 eingerichtet, und zwei Jahre später gab es in jedem Landkreis Taiwans Zweigstellen. Die Kommission entwickelte Erziehungsmaterialien in den beiden Sprachen Taiwanesisch und Mandarin, welche für eine Reihe von Jahren Verwendung fanden, um der Bevölkerung auf Taiwan den Übergang zum Mandarin zu erleichtern. Japanisch wurde 1946 verboten, und auch das Taiwanesische war in offiziellen Kreisen und in den Schulen untersagt. Eine ganze Generation japanischsprachiger Schriftsteller wurde zum Schweigen gebracht, und als eine Folge der amtlichen Sprachpolitik kam es zu zahlreichen Mißverständnissen und Verhöhnungen.
Lin Tsung-yuan, Jahrgang 1935, erhielt drei Jahre Unterricht auf Japanisch, bevor er zum Mandarin übergehen mußte. Über seine Erfahrungen in dieser Zeit des Mandarinlernens hat er in Taiwanesisch ein Gedicht mit dem Titel "Eine Geldstrafe für jeden Satz" verfaßt:
講一句罰一元
講一句罰一元
臺灣話真俗
阮老父每日予我幾張新臺幣
講一句掛一擺狗牌
臺灣話昧咬人
阮先生教阮咬這個傳彼個
講一句徛一擺黑板
臺灣話昧抬人
阮徛黑板不知犯捨罪
講一句打一擺手心
臺灣話有毒
阮的毒來自中原河洛的所在
先生 伊講廣東話為啥無拍手心
先生 伊講上海話也無徛烏板
先生 伊講四川話也無掛狗牌
先生 你講英語為啥無罰一元
先生提起竹仔枝打破阮的心
Eine Geldstrafe für jeden Satz
Eine Geldstrafe für jeden Satz, den du sprichst
Das Taiwanesisch ist vulgär
Jeden Tag gibt mir mein alter Vater ein bißchen Geld
Trag ein "Hundehalsband" für jeden Satz
Das Taiwanesische kann nicht beißen
Der Lehrer befiehlt uns zu beißen und das "Hundehalsband" jemand anderem weiterzugeben
Stand vor der Tafel für jeden Satz
Das Taiwanesische wird doch niemand umbringen
Vor der Tafel weiß ich nicht, was ich verbrochen haben soll
Ein Schlag auf die Hand für jeden Satz
Das Taiwanesische ist giftig
Das Gift kommt aus dem Herzen Chinas
Herr Lehrer! Der da spricht Kantonesisch –
Warum werden seine Hände nicht geschlagen?
Herr Lehrer! Die da spricht den Schanghai-Dialekt –
Warum muß sie nicht vor der Tafel stehen?
Herr Lehrer! Der da spricht den Szechuan-Dialekt –
Warum muß er kein "Hundehalsband" tragen?
Herr Lehrer! Du sprichst Englisch,
Warum wirst du nicht bestraft?
Der Lehrer bricht mein Herz mit einem Stock
Eines der Themen ist die Politik, die auf Taiwan lange nicht genügend offen diskutiert wurde; die Verbindung von politischen Aussagen mit ruralen Sujets vereinigt zwei Hauptanliegen der Dialekt-Poesie.
Eine Methode, mit der die Sprachpolitik in den Schulen durchgesetzt wurde, war, "Spiele" zu spielen. Wenn ein Schüler beim Taiwanesisch-Sprechen ertappt wurde, gab man ihm das "Hundehalsband", ein Stoffband. Es war dann seine Pflicht, die Marke an jemand anderen weiterzugeben, welcher den Dialekt sprach. Natürlich schufen solche Spiele unter den Schülern eine Atmosphäre der Verdächtigung und des Mißtrauens, doch brachten die Spiele die Kinder dazu, Mandarin zu sprechen. Einige Leute, welche diese Spiele als Kinder spielten, lachen heute darüber.
Lin Tsung-yuan begann eigentlich schon 1953 über das Schreiben in Taiwanesisch nachzudenken, aber aus politischen Gründen hielt er es für das beste zu warten. Im Laufe der Siebziger begann er mit Schrifttaiwanesisch zu experimentieren. Freunde und andere Dichter zeigten sich hilfsbereit und begeistert. Doch erst nach Aufhebung des Kriegsrechts im Jahr 1987 und dem Beginn der politischen Liberalisierung begann die Härte in den politischen Sichtweisen der Menschen nachzulassen. Jetzt ist es politisch akzeptabel, in Taiwanesisch zu schreiben.
Doch selbst wenn man die historischen und politischen Hindernisse einmal beiseite läßt, gibt es noch eine Anzahl linguistischer Faktoren, welche das Schreiben in Taiwanesisch erschweren. Sprachwissenschaftler schätzen, daß für etwa 10 bis 15 Prozent des Dialektes keine chinesischen Schriftzeichen existieren. Leider gehören hierzu viele der am häufigsten gebrauchten Wörter. Schriftsteller haben sich einer Reihe von Lösungsmöglichkeiten bedient. Einige verwenden chinesische Schriftzeichen, die sie für passend halten, aber ihre Wahl gründet sich eher auf persönlichen Präferenzen denn auf wissenschaftliche Sprachforschung. Andere nehmen eine Mischung aus chinesischen Schriftzeichen und Transkription in lateinische Schrift. Lin Tsung-yuan behauptet, ein weiterer Grund für sein Warten mit dem Verfassen von Dichtung in Taiwanesisch bis in die Siebziger sei schlicht gewesen, daß zuvor kein Wörterbuch des Taiwanesischen weithin verfügbar gewesen sei. Obwohl solche Lexika nun üblicher werden, gibt es noch immer kein endgültiges.
Als Hsiang Yang anfing, Gedichte in Taiwanesisch zu schreiben, merkte er, was für ein schwerer, schmerzlicher Prozeß es war. "Als ich zu schreiben anfing, hatte ich den Rhythmus der Oper und des Puppentheaters im Kopf - ich wuchs auf dem Land auf - und dachte an Worte, die dazu passen könnten", blickt er zurück. "Dann schrieb ich auf, was mir in den Sinn kam, Zeichen für Zeichen, Zeile für Zeile. Zuerst ging es nur sehr langsam." Hsiang Yang' frühestes Gedicht enthält eine Reihe von "Mandarinismen", d.h. eine Anzahl von Zeichen, die dem Standardmandarin näherstehen.
Sprecher des Taiwanesischen und des Mandarin können einander nicht verstehen. Südfukiensisch hat sieben Töne und Mandarin vier. Im Taiwanesischen nehmen diese Töne einen anderen Verlauf an, wenn das Wort nicht das letzte in einer Phrase oder in einem Satz ist. Und diese Veränderungen innerhalb eines gegebenen Satzes sind oft grundlegend. Noch ein berkenswertes Merkmal dieser Sprache sind nasalierte Vokalendungen, genauso wie eine Anzahl weiterer Laute, die im Mandarin nicht zu finden sind. Auch gibt es signifikante Unterschiede hinsichlich Grammatik und Vokabular. Ein Muttersprachler des Südfukiensischen hätte heine Schwierigkeiten, ein rezitiertes Gedicht zu verstehen. Läse man aber dasselbe Gedicht in Mandarin vor, würde jemand, dessen Muttersprache Mandarin ist, wahrscheinlich recht verwirrt reagieren.
Obgleich die Mundart von einer Mehrheit der Bevölkerung gesprochen wird, gibt es keinen formalen Unterricht in ihrer mündlichen oder schriftlichen Form. Man könnte annehmen, daß ein Poet, der Dichtung in Taiwanesisch schreibt, sich als Schriftsteller willentlich ausgrenzt, da Muttersprachler des Mandarin nicht in der Lage sind, die Gedichte zu lesen, und zahlreiche Leute, deren Muttersprache das Taiwanesische ist, würden nicht viel besser dastehen. Da die meisten wenig Erfahrung darin haben, das Taiwanesische zu lesen, kann dies zunächst recht zeitraubend sein, und die Lesergemeinde ist überwiegend nicht willens, diese zusätzliche Anstrengung auf sich zu nehmen. Aus diesem Grund hängen die meisten Dichter am Ende ihrer Bücher ein Glossar des Taiwanesischen an. Das Problem spiegelt sich aber auch in der Verlagsindustrie wider, wo die Auflage für einen Gedichtband in Taiwanesisch im Schnitt zweitausend Stück beträgt, im Gegensatz zu fünftausend bei einer Ausgabe von Gedichten in Mandarin.
Bereitet es Dichtern, die in Taiwanesisch schreiben, nicht Bedenken, daß sie nur ein kleines Publikum erreichen? Hsiang Yang erklärt dazu: "Dichtung in Taiwanesisch ist noch immer neu. Öffentliehe Vorlesungen von Poesie in Taiwanesisch sind ziemlich populär und recht bewegend. Ich habe tatsächlich viele Menschen weinen sehen. Das größte Hindernis für eine Würdigung der Dichtung in Taiwanesisch ist das Fehlen von Unterricht in der Schriftsprache des Taiwanesischen. Das Publikum ist derzeit nur begrenzt, aber das wird sich in der Zukunft ändern. Wir schaffen jetzt die Grundlagen. Vielleicht werden wir eines Tages an unseren Schulen eine zweisprachige Erziehung haben."
Lin Tsung-yuan macht sich für seinen Teil ebenfalls keine Gedanken. Seine 1988 veröffentlichte Auswahl an Gedichten in Taiwanesisch ist nahezu ausverkauft. Er behauptet, daß der Zuspruch der Leser groß sei. Auch er meint: "Seitdem ich begann, Dichtung in Taiwanesisch zu verfassen, habe ich mir mehr Gedanken darüber gemacht, gute Gedichte zu schreiben als darüber, wieviele Leser ich habe. Wenn ich gute Gedichte schreibe, dann kann das Taiwanesische vielleicht einen Platz in der Weltliteratur einnehmen. Ich will einfach beweisen, daß die Sprache dazu verwendet werden kann."
Aber was hat denn, angesichts der historischen, politischen und linguistischen Probleme sowie der geringen Anzahl an potentiellen Lesern, die beiden Dichter dazu gebracht, mit dem Verfassen von Dichtung in Taiwanesisch zu beginnen? Lin Tsung-yuan zufolge ist die einzige Sprache, welche die Realität Taiwans, wie sie heute erlebt wird, auszudrücken vermag, die südfukiensische Mundart. "Ich glaube, daß Taiwan-Literatur nur in Taiwanesisch geschrieben werden kann", erklärt er. "Ein Schriftsteller kann seine innersten Gefühle nicht vollständig ausdrücken, es sei denn, er benutzt seine Muttersprache. Wenn es der Sprache an Gefühl fehlt, wird es der Dichtung an Gefühl fehlen. Und Dichtung ohne Gefühl ist eben keine Dichtung."
Hsiang Yang ist überzeugt, daß in Taiwanesisch verfaßtes Schrifttum einen Platz unter den Literaturen Chinas verdient. "Taiwan ist eine vielsprachige Gesellschaft, die von den Holländern, den Japanern und sogar von Amerika ein reiches linguistisches Erbe übernommen hat", sagt er. Je mehr Sprachen, desto besser für die einheimische Literaturszene, soweit es ihn betreffe. Er hoffe, so Hsiang Yang, durch seine Gedichte den Menschen auf Taiwan ein neues Gefühl der Selbstachtung zu vermitteln.
Bei jeder in Taiwanesisch abgefaßten Dichtung gibt es zwei alles überragende Anliegen: das Leben auf dem Lande und die Politik. Es wurde die Meinung vertreten, daß der Grund für den Mangel an Abwechslung darin liegt, daß viele Schriftsteller eine Taiwan-Identität zu begründen und in ihren Werken alte politische Rechnungen zu begleichen suchten. Was auch immer die Gründe sein mögen, jeder Leser wird in irgendeiner beliebigen Auswahl an Dichtung in Taiwanesisch einer wahren Fülle an Elementen der "Heimat"-Literatur und politisch orientierten Aussagen begegnen. Hsiang Yang's politische Satire "Der ehrenwerte Herr Abgeordnete ist nicht zu Hause" ist ein geistreiches Beispiel, das beide Themen in einem einzigen Gedicht vereinigt:
議員仙仔無在厝
議員仙仔無在厝
一個月前為著村民的利益
他就出門去縣城努力
道路拓寬以後交通便利
工廠一間一間起大家大賺錢
議員仙仔一向真飽學
聽講彼日在議會發威
先是罵縣老爺無夠力飯桶
續落去笑局長是龜孫子
議員仙仔是官虎頂頭的大官虎
當初這票投了實在無不對
不但賺煙賺錢賺味素
而且如今找議員仙仔同款真照顧
東一句王兄西一句李弟
握一個手任何問題攏無問題
可惜議員仙仔不在厝
新起的一間工廠放廢水
田裡的稻仔攏總死死掉
可惜議員仙仔一個月前就出門去
爭取道路拓寬工廠起好大家大賺錢
Der ehrenwerte Herr Abgeordnete
Der ehrenwerte Herr Abgeordnete ist nicht zu Hause
Vor einem Monat ging er in die Kreishauptstadt
Als Repräsentant der Einwohner
Wenn die Straße verbreitert ist, wird sich der Verkehr verbessern
Fabriken werden aus dem Boden schießen und jeder wird reich
Der ehrenwerte Herr Abgeordnete kennt sich wirklich aus
Es heißt, als er in der Versammlung seine Macht ausspielte
Hieß er zuerst den Chef des Landkreises ein nutzloses Stück Sch ...
Und dann schimpfte er lachend den Amtsvorsteher einen Duckmäuser
Der ehrenwerte Herr Ahgeordnete ist der Oberste unter den hohen Beamten
Er war damals die richtige Wahl
Wir haben Zigaretten, Geld und Geschmacksverstärker* bekommen
Und jetzt kann sich niemand besser um uns kümmern
Als der ehrenwerte Herr Abgeordnete
Hier ein gutes Wort
Dort ein Händedruck für einen alten Kumpel
Und alles geht klar
Leider ist der ehrenwerte Herr Abgeordnete nicht zu Hause
Eine der neuen Fabriken läßt Schmutzwasser ab
Das den ganzen Reis auf den Feldern zerstört
Leider ging der ehrenwerte Herr Abgeordnete vor einem Monat
Um für den Ausbau der Straße zu kämpfen
Gibt es mehr Fabriken, werden wir alle reich
*) In der chinesischen Küche wird den meisten Speisen ein geschmacksverstärkendes Mittel beigegeben, das Monosodiumglutamat (MSG), welches in seiner Wichtigkeit der des Salzes entspricht.
Ein anderes geläufiges Thema in der "Heimat"-Literatur und in taiwanesischsprachigen Werken ist die Arbeit. Schriftsteller der "Heimat"-Literatur hatten schon immer viel Sympathie für Arbeiter, für solche in den Städten wie auch auf dem Land. Ihr Leben und Leiden sind beliebte Themen und werden mit großem Pathos geschildert. Szenen des Lebens und Arbeitens auf dem Land werden in taiwanesischsprachiger Dichtung oft behandelt, trotz der Tatsache, daß die meisten von Taiwans Bewohnern nun in städtischen Gebieten leben und arbeiten. Hsiang Yang verwendete die Melodie eines Volksliedes, als er das folgende Gedicht "Von 9 bis 5" über einen anstrengenden Job schrieb:
吃頭路
吃人的頭路真艱苦
透早起來得出門
搧冷風,等公車
搖頭腳踩看手錶
苦苦等,苦苦看
公車擠到人已經昏倒一大半
吃人的頭路真痛苦
每日上班的打拼
看頂司,賠面色
喝東不敢向西行
苦苦做,苦苦爬
月給領到人已經減活幾仔歲
吃人的頭路真辛苦
不時透暝得加班
聽鐘聲,算時間
一分一秒有夠慢
苦苦算,苦苦等
日頭看到人已經腳手懶懶懶
Von 9 bis 5
Dieser Job hat mich wirklich untergekriegt
Morgens in aller Frühe raus
In der Kälte stehen, auf den Bus warten
Dabei den Kopf schütteln, mit den Füßen stampfen, auf die Uhr schauen
Warten und schauen, warten und schauen
Der Bus ist so voll, bis man eingestiegen ist, ist man beinahe ohnmächtig
Dieser Job ist wirklich eine Qual
Jeden Tag hart arbeiten
Auf die Launen des Chefs achten
Ihm nur nicht über den Weg laufen
Arbeiten und kriechen, arbeiten und kriechen
Das bißchen Gehalt kostet dich Jahre deines Lebens
Dieser Job hat mich wirklich untergekriegt
Muß manchmal arbeiten bis spät in die Nacht
Auf die Uhr hören, die Sekunden und Minuten zählen
Die Zeit zieht sich langsam hin
Zählen und warten, zählen und warten
Wenn du die Sonne siehst, sind Arme und Beine schon so müde
Dörflicher Charakter und Lebensart sind Standardthemen in taiwanesischsprachiger Dichtung. Obwohl das rurale Leben und die traditionellen ländlichen Werte mit der Industrialisierung und der Abwanderung in städtische Gebiete zu verschwinden begannen, sind sie noch immer beliebte Sujets. Viele Schriftsteller scheinen eine nostalgische Verbundenheit mit der Vergangenheit zu verspüren und zu meinen, daß Taiwans Charakter im wesentlichen mit der Agrargesellschaft verknüpft sei. Konflikte zwischen Tradition und Moderne sind oft anzutreffen, beispielsweise in "Landfrau" von Lin Tsung-yuan:
農婦
日頭開目阮毋敢睏
透早起床就去灶腳
早頓煮煞飼雞鴨飼豬羊
日頭光光阮愛去田園
除草割稻件件來
頭戴草笠手穿長手套
日頭行到頭殼頂
趕轉去厝煮中晝
莫怪姑娘仔愛嫁府城人
阮嫁田莊才知伊的情意
日日看伊春天的草地
盈昏有阮春天的愛
Landfrau
Wenn die Sonne aufgeht, kann ich nicht im Bett bleiben
Morgens früh 'raus, gehe ich in die Küche
Mache Frühstück, füttere die Hühner, Enten, füttere die Schweine und Ziegen
Im Sonnenschein mache ich mich auf den Weg zu den Feldern
Unkraut ausreißend und Reis schneidend
Trage ich einen Bambushut und lange Handschuhe
Wenn die Sonne über mir steht
Muß ich nach Hause und das Mittagessen kochen
Kein Wunder, daß ein junges Mädchen einen Mann aus der Stadt haben will
Da ich im Dorf geheiratet habe, verstehe ich ihre Gefühle
Tagaus, tagein schaue ich auf den begrasten Frühlingsgrund
Meine Jugendliebe existiert nur in den Träumen
Ein sehr bedeutsames Ereignis für Dichtung in Taiwanesisch war 1990 die Veröffentlichung des Bandes "Sechs Poeten des Taiwanesischen: Eine Anthologie" durch die Verlagsgesellschaft Chienwei. Zwei Jahre später hat das Buch seine zweite Auflage erlebt. Hsiang Yang sieht die Sammlung als einen Höhepunkt der Bewegung in ihrer Entwicklung im Laufe der achtziger Jahre. Der Band, der auch Arbeiten von Hsiang Yang und Lin Tsung-yuan enthält, ist der erste echte Hinweis darauf, daß die Bewegung für taiwanesischsprachige Literatur wächst und gedeiht.
Lin Tsung-yuan gründete 1991 die "Gesellschaft für Kartoffel-Dichtung", die auch ein Dichterjournal in Taiwanesisch veröffentlicht, das erste seiner Art in der Geschichte Taiwans. Es wurden bereits zwei Ausgaben veröffentlicht, die weiten Zuspruch erhielten. Der Rückhalt ist stark. Von den vereinzelten Anstrengungen zweier Poeten in den siebziger Jahren ist die Bewegung auf etwa fünfzig Dichter angewachsen. Unter ihnen finden sich der berühmte Romanschriftsteller Sung Tse-lai(宋澤萊), der Dichter und Essayist Huang Chin-lien(黃勁連)und der weitgehend politisch orientierte Autor Lin Yang-min(林央敏).
Wenn auch die Zahl der Schriftsteller zugenommen hat, die thematische Bandbreite hat es nicht. Hsiang Yang erklärt, daß Sujets der "Heimat"-Literatur und Politik noch immer im Schwange sind. "Es gibt keinen Dichter, der über das Leben in großen Städten wie Taipei schreibt. Noch wurde irgendein Liebesgedicht verfaßt, seltsamerweise. Ich bin jetzt schon seit vielen Jahren verheiratet, sonst würde ich es selbst mal probieren", setzt der Dichter scherzend hinzu. "Ein weiteres Problem ist, daß es Dichtung in Taiwanesisch an einer Weltsicht mangelt. Warum können wir in Taiwanesisch keine Gedichte über das Leben in einem Pekinger Hu-t'ung, einer der kleinen Gassen dort, oder über das Leben in Paris schreiben? Wir sind in unserer Sichtweise der Welt bei weitem zu begrenzt", kritisiert er.
Schriftsteller wie Sung Tse-lai und Huang Chin-lien können Melodien von Volksliedern und Balladen recht geschickt verarbeiten. Im Jahr 1983 veröffentlichte der 1952 geborene Sung Tse-lai seine bislang einzige Gedichtsammlung, die "Ode an Formosa". Der erste, dünne Abschnitt besteht aus taiwanesischsprachigen Gedichten, von denen er viele 1981 schrieb, als er sich in den Vereinigten Staaten aufhielt. Einige sind unbeschwerte, im Stil eines Volksliedes gehaltene Stücke. Sein Gedicht "Wenn du nach Hengchun gehst" ist ein gutes Beispiel hierfür:
若是到恆春
若是到恆春
著愛落雨的時陣
罩霧的山崙
親像姑娘的溫純
若是到恆春
愛撿黃昏的時陣
你看海墘的晚雲
半天通紅像抹粉
若是到恆春
著愛好天的時陣
出帆的海船
有時駛遠有時近
若是到恆春
毋免揀時陣
陳達的歌若唱起
一時消阮的心悶
Wenn du nach Hengchun gehst
Wenn du nach Hengchun gehst
Wähl eine Zeit, wenn es regnet
Die in Nebelschleier gehüllten Berge
Sind wie süße Mädchen
Wenn du nach Hengchun gehst
Wähl eine Zeit um die Abenddämmerung
Am Strand wirst du sehen
Wie der halbe Himmel rotgepudert ist
Von den Abendwolken
Wenn du nach Hengchun gehst
Wähl eine Zeit, wenn das Wetter schön ist
Die Boote setzen Segel
Einige nah, einige fern
Wenn du nach Hengchun gehst
Ist jede Zeit recht
Die Lieder, die man dort singt
Werden dir das betrübte Herz leichter machen
Huang Chin-lien, Jahrgang 1947, ist ein weiterer Dichter, der in Taiwanesisch schreibt. Auch gilt er als Meister des Balladenstils. Er stammt aus der Stadt Chiali im Landkreis Tainan, welche über die Jahre eine Reihe ausgezeichneter Schriftsteller hervorgebracht hat, darunter die wichtige Gruppe von Dichtern der dreißiger Jahre, die als "Salzfeldpoeten" bekannt wurden. Huang's Arbeiten kontrastieren oft Erinnerungen an die Kindheit auf dem Lande mit dem Erwachsenenleben in der großen Stadt. Natürlich beklagen diese traurig-nostalgischen Gedichte den Verlust der Kindheit und der Unschuld des ländlichen Lebens. Sein Gedicht "Wenn der Fasan schlägt" ist eines seiner bekanntesten:
Das Rufen eines Fasans als Sinnbild für das Zurücksehnen nach dem, was man verloren hat ...
雉雞若啼
雉雞若啼
一定是春天
一定是播田期
一定是好天氣
白鴒鷥一隻兩隻
田岸仔墘行來行去
日頭曝田水
田中央播秧仔的阿爸佮阿叔
親像店田水內行棋
額頭 喙邊
汗 一點一點滴
汗 一點一點滴
這款的天氣
有時陣 阿爸阿叔
亦歇困 蓮霧樹跤
點著「新樂園」一枝
兩枝輕鬆來吐出大喟
這款的天氣
食飯坩中央的阮佮
小弟 磅!一聲
跳落大圳來泗水
喙裡唱「白鴒鷥 撦畚箕 撦駕溪仔墘」
雉雞若啼
一定是春天
一定是好天氣
雉雞的啼叫聲
那親像叫阮 較緊
較緊飼牛大圳頭
溪仔邊 彼時陣
風微微 燕仔飛來飛去
阮騎店牛尻脊
吟阿公教阮的唐詩
這是二十年前的代誌
活佇阮的心肝底
無法度來袂記
如今漂浪異鄉
在遙遠的城市
日落黃昏時若聽見
異鄉鳥隻塊哮
阮就來想起雉雞的叫啼
阮就想起二十年前
故鄉的景緻
啊 二十年
白了阮少年的頭
無情歲月的流轉
毋知流轉佫何時
啊 阮的故鄉
已經無雉雞的叫啼
Wenn der Fasan schlägt
Wenn der Fasan schlägt
Muß es Frühling sein
Muß es Zeit sein zum Pflügen
Muß es gutes Wetter sein
Ein Reiher und noch ein zweiter
Spazierten am Feldrand entlang
Die Sonne schien auf das Wasser in den Reisfeldern
Wo Vater und Onkel Reisschößlinge pflanzten
Es sah aus, als spielten sie dort Schach
Schweißtropfen perlten herab
Schweißtropfen perlten ihnen
Von der Stirn zum Mund
Bei solchem Wetter
Mußten Vater und Onkel gelegentlich
Unter dem Wachsapfelbaum rasten
Sie zündeten eine und noch eine "Neues Paradies"-Zigarette an
Und pafften gemächlich
Bei solchem Wetter
Zur Mittagszeit sprangen ich und mein kleiner Bruder – Platsch!
In den Bewässerungsteich
Beim Schwimmen sangen wir: "Der Reiher
Tträgt einen Korb den Fluß entlang"
Wenn der Fasan schlägt
Muß es Frühling sein
Muß es gutes Wetter sein
Das Schlagen des Fasans
Scheint mich zu mahnen, hurtig
Hurtig den Büffel zu füttern
Am Flußufer. Zu jener Zeit
Wehte eine sanfte Brise und die Schwalben flogen hin und her
Ich ritt auf dem Rücken des Büffels
Tang-Gedichte aufsagend, die Großvater mich gelehrt hatte
Das war vor zwanzig Jahren
Es lebt in meinem Herzen
Ich kann es nicht vergessen
Heute irre ich weit entfernt von zu Hause
In einer fernen Stadt herum
Wenn ich bei Sonnenuntergang in der Dämmerung
Einen Vogel rufen höre in dieser fremden Gegend
So denke ich an das Schlagen des Fasans
Denke ich an die Zeit vor zwanzig Jahren
Und an meine wunderschöne Heimat
Oh zwanzig Jahre sind vergangen
Und mein Haar ist weiß geworden
Die Zeit zieht dahin ohne Erbarmen
Wann wird sie stehenbleiben ...
Oh meine Heimat
Wo der Fasan nicht länger schlägt
Volkslieder sind beliebte Vorbilder der Dichter, denn sie bilden die einzige lebensfähige Tradition Taiwans, aus der sie schöpfen können. Da es an einer ausgiebigen Literatur fehlt, sind Schriftsteller, die sich des Taiwanesischen bedienen, gezwungen, nach Vorbildern zu suchen, wo immer sie sie finden können. Lin Tsung-yuan zufolge haben Taiwans Liedgut, Filme und Karaoke-Klubs viel mit der Popularität des Volksliedstils zu tun. Diese können zur Verbreitung von Dichtung beitragen, die in Taiwanesisch abgefaßt ist.
Die Politik ist auch bei jüngeren Schriftstellern ein beliebtes Sujet. Weil die Politik als Thema in der Vergangenheit lange Zeit vernachlässigt wurde, ist es nur natürlich, daß sie neuerdings mehr Aufmerksamkeit erhält, sowohl in taiwanesischsprachiger als auch in Mandarin-Dichtung. Lin Tsung-yuan hält das für unvermeidlich; das hinge aufs engste mit den aktuellen Problemen Taiwans zusammen.
Lin Yang-min, Jahrgang 1955, ist ein preisgekrönter Liederkomponist, der für seine Übersetzungen von Shakespeare und William Butler Yeats ins Taiwanesische bekannt ist. Zugleich ist er berühmt für seine kontroversen, scharfen politischen Gedichte. Seine Arbeit zeigt ein hohes Maß an sozialem Bewußtsein und einen ausgeprägten Geschichtssinn. In seinen Gedichten versucht Lin oft zu bereinigen, was er als Fehler der Vergangenheit betrachtet. Einige seiner Leser finden den beißenden, anprangernden Ton seiner Arbeiten schrill, wenn nicht gar hetzerisch.
Sein kürzlich zweisprachig in Taiwanesisch und Mandarin erschienenes Buch "Segel setzen für Taiwan" enthält eine große Zahl an politischen Gedichten, von denen einige im Volkliedstil gehalten sind. Das "Lied vom nicht enden wollenden Kampf" ist eines seiner eher harmlosen politischen Gedichte:
Die Zukunft der bodenständigen Dichtung hängt sicherlich von den Fortschritten der politischen Liberalisierung ab. Hsiang Yang ist überzeugt, daß sie einen Platz unter den Literaturen Chinas verdient und hofft, damit den Menschen auf Taiwan ein Gefühl der Selbstachtung zu vermitteln.
搰力歌(勤奮歌)
日頭未起床
行入阮田園
喙筋咬匼,吥驚北風冷酸酸
若是日頭赤燿燿
也得愛拍拼
艱苦吥免俍知影
天烏日頭暗
互咱揣旡路
做夥拍拼,乍會行出好前途
挂著狂風搧暴雨
咱愛相照顧
親像海泳唚海埔
時代新潮流
吥甬慢跤步
抱著希望,犁出咱的好年冬
覓似花籽种落土
期待有一工
春天開咖滿山紅
"Lied vom nicht enden wollenden Kampf"
Bevor die Sonne aufgeht
Sind wir schon auf den Feldern
Die Zähne zusammenbeißend, fürchten wir nicht den Nordwind
Und mag auch die Sonne brennen
Müssen wir weiterkämpfen
Unsere Leiden sind unbekannt
Wenn die Sonne hinter den Bergen untergeht
Können wir unseren Weg nicht finden
Wir müssen zusammen für eine bessere Zukunft kämpfen
Gewaltigen Stürmen und Güssen trotzen
Wir müssen uns an der Hand nehmen
Und wie eine Welle eilen, die den Strand küßt
Ein neues Zeitalter tagt
Wir können unseren Schritt nicht verlangsamen
Von Hoffnung erfüllt müssen wir eine glückliche Zukunft schaffen
Wie beim Säen von Blumensamen
Und dann des Frühlingstags harren
An dem die Berge rot sind von Blüten
Einige Leute sind der Meinung, daß das Verfassen eines guten politischen Gedichts, das als Kunstwerk Bestand hat, viel schwieriger sei als das Schreiben eines guten Liebesgedichts. Auch wenn Lin das Schrifttaiwanesisch gut beherrscht, fließt in seine künstlerische Arbeit, wie in die vieler anderer Schriftsteller, oft ein belehrender Ton ein.
Wie steht es nun aber um die Zukunft der taiwanesischsprachigen Dichtung? Hsiang Yang ist der Ansicht, daß sie weiterhin gedeihen wird. "Ich weiß, der bevorstehende Weg ist lang und wird unermüdliche Anstrengung erfordern", gibt er zu. Er glaubt, daß die Dichtung noch stärker wachsen wird, wenn erst einmal die zweisprachige Erziehung Realität geworden ist. Er selbst hat sich in seinen Arbeiten von ausschließlich einsprachigen, entweder in Taiwanesisch oder in Mandarin gehaltenen Gedichten abgewendet. Seine jüngsten Verse sind oft eine Mischung aus Taiwanesisch und Mandarin. Wie er sagt, spiegle dies nur die linguistische Realität - und Reichhaltigkeit - Taiwans wider.
Lin Tsung-yuan zufolge ist die Zukunft der Literatur des Taiwanesischen eng mit einer Demokratisierung der Politik verknüpft. "Ich bin überzeugt, daß das Taiwanesische vorherrschen wird, wenn wir jemals zweisprachige Schulerziehung bekommen. Die Zahl der Menschen auf Taiwan, auf dem Festland und in Südostasien, die den Dialekt Südfukiens sprechen, ist bei genauerem Hinsehen recht bedeutend. Ich denke, die Zukunft sieht ganz gut aus. Aber derzeit sind wir noch dabei, eine Schriftsprache zu begründen."
(Deutsch von Martin Kaiser)